Chicago Blues 19.1. – 2.3.2019

Daily Ration. Eine Handvoll bunter Pillen in verschiedenen Grössen, eingeschweisst in ein Stück Plastik. Damit ist man gegen alles gewappnet, so die Verheissung der Tagesration an Vitaminen und Nahrungsergänzungen, welche in Chicago in jedem Seven/Eleven erhältlich ist. Sie verhilft – garantiert – zu einem gesunden, gelungenen Tag. Das Bild, Aquarell auf Bütten von Jeroen Geel, ist ein Detail aus der Alltagskultur einer Stadt, eine Selbstverständlichkeit, die erst im wachen Blick des Reisenden in seiner Eigentümlichkeit entdeckt werden kann.

Jeroen Geel hat letztes Jahr im Rahmen eines Atelierstipendiums der Stadt Luzern vier Monate in Chicago verbracht. Dabei hat er Eindrücke der Stadt, Alltagsbeobachtungen der Fremde, in kleinformatigen Malereien festgehalten.

In Chicago ist Geel zu einer intuitiven Heran-gehensweise zurückgekehrt, mit der er früher oft gearbeitet hat. Nachdem er in den letzten Jahren wie beispielsweise bei seiner Serie Landstreicher nach genauer Anleitung, einem festen Regelwerk zu seinen Motiven fand und direkt vor dem Objekt gemalt hat, war auch die Arbeit Bildmarmor durch eine konzeptionelle Herangehensweise geprägt.

Bereits bei seiner Ankunft in Chicago hat Jeroen Geel gemerkt, dass dieser Ort nach einer anderen Arbeitsweise verlangte. Bei Geels letzter Ausstellung in der Alpineum Produzentengalerie, Spatium, hat sich der Künstler stark mit Sehgewohnheiten in Zusammenhang mit Raum und Raumverständnis auseinandergesetzt und sie in Zeichnungen untersucht. Seine Arbeiten in Chicago lassen sich vielleicht als Erweiterung dieser Auseinandersetzung betrachten. Nur interessierte ihn hier nicht nur der Blick in den Raum nach aussen, die Beobachtung, sondern sozusagen auch den nach innen: Die Erinnerung.

Während Geel Chicago entdeckte, machte er sich vor Ort teilweise kurze Skizzen oder Notizen zu Farben und Licht, doch die tatsächliche Arbeit, das Malen, fand fast ausschliesslich im Atelier statt. Dabei interessierte den Künstler, wie sich der Raum, die Farben, das Licht in der Erinnerung veränderten. Oft seien es räumliche Abstraktionen, Vereinfachungen, die im Kopf passieren, sagt er. Die Vermischung von Tatsachen und freier Erfindung liess Geel dann auch bewusst geschehen.

Die entstandenen Malereien bilden eine Narration, manchmal in der Totalen, dann wieder im Detail erzeugen sie unterschiedliche Tempi, einem Film gleich stellen sie ein Herantasten an einen Ort dar und zeichnen gleichzeitig ein Portrait dieser Stadt. Da gibt es zerknüllte Dollarnoten auf dem Tisch, die das Antlitz von George Washington zu einer Fratze verzerren lassen oder das tägliche Paket mit Werbungen auf dem Treppenabsatz vor dem Haus, ein ungemachtes Bett im Halbdunkel – und immer wieder fährt brausend die Hochbahn durch die Nacht.

Einerseits werden diese Stimmungen durch die Lichtsituationen erzeugt, die Geel besonders interessieren, andererseits ist das Erzählerische dieser Malereien auch dem teilweise fast comichaften Stil zu verdanken.

Neben dem Licht sind es die Farben, die Geel interessieren, und die Muster auf Wänden, Tischdecken und Böden. Sie lassen sich auch bei der Präsentation der Bilder in der Ausstellung wiederfinden, die Streifenmuster an der Wand wecken Assoziationen an einen typischen amerikanischen Coffee Shop, aber natürlich auch an die Streifen der US-Flagge. Er habe sich tatsächlich mit Motiven und Farben von Flaggen auseinandergesetzt in dieser Zeit, sagt Geel. Da verschmilzt dann in Strips and Stripes der Bacon mit den Streifen der amerikanischen Fahne.

So bewegen sich die Malereien nicht nur in geschlossenen Narrationen, sondern sind immer auch verknüpft mit dem Ort, dem Land, das Geel erfuhr. Old World vs the New beispielsweise, der Ritter aus dem Chicago Museum, der sich plötzlich in der fremden Welt der Chicagoer Strassen wiederfindet. Oder auch Don’t look down on me (Self Portrait as a Homeless), wobei Geel aus dem Zuruf eines Obdachlosen, nicht auf ihn herunterzublicken, ein Selbstportrait als ebensolchen zeichnete.

Jeroen Geel vermischt in seinen Arbeiten Tatsachen mit freier Erfindung und ermöglicht so, durch die Malereien hindurch, seinen Erinnerungen zu folgen, ähnlich einer Spur, die durch die fremde Stadt führt oder einem Sound, einem Blues vielleicht.

Laura Sennhauser